Sie begegnen sich regelmässig auf den Fluren der aarReha Schinznach, zwischen ihnen liegen 57 Berufsjahre: Mitarbeiter Linus Zendel ist seit August letzten Jahres in der Lehre zum Fachmann Gesundheit. Maria Schmid begleitet seit fünfzehn Jahren als Freiwillige Patienten. Der 17-Jährige und die 74-Jährige tauschen ihre Gedanken zum Berufsleben aus.

 

Linus, warum wolltest du Fachmann Gesundheit werden?
Linus: Meine Mutter arbeitet im Gesundheitswesen, sie studierte Psychologie. Sie schickte mich zum Schnuppern in ein Spital und in eine Rehaklinik, und hier gefiel es mir sofort. Ich schaute mir keinen anderen Beruf an.

 

Maria, warum hast du dich damals für das KV entschieden?
Maria: Ich war das siebte Kind von acht. Wir wuchsen in einem Bündner Bergdorf auf, dort waren alle Bauern. Mein ältester Bruder fand, ich habe so gute Noten, ich müsse eine Lehre machen. 1966 waren Lehren bei uns für Mädchen aber nicht vorgesehen. Mein Vater fand, eine Lehre sei für die Katz, wenn ich danach eh heirate. Ich machte sie trotzdem.

 

Linus, hat sich bei dir irgendwer Gedanken gemacht, ob dein Lehrberuf zu einem Jungen passt?

Linus: Einige Kollegen machten dumme Sprüche, weil sie fanden, ich würde einen Frauenberuf erlernen. Aber das war mir egal, und für meine Eltern war das überhaupt kein Thema. Mein Ziel ist es, Sanitäter zu werden. Ich möchte gern in einer Ambulanz unterwegs sein. Die Action daran reizt mich. Aber mein jetziger Beruf gefällt mir auch.

Maria: Das finde ich schön, dass du schon genau weisst, wie es weitergehen soll. Die Möglichkeiten heute sind toll. Ich blickte damals nicht so weit in die Zukunft. Es war klar: Mit 23 werde ich heiraten und eine Familie gründen. Die berufliche Karriere endete damit für die meisten Frauen, der Mann war Alleinernährer und Chef der Familie.

Linus: Das ist heute ganz anders. Man schaut, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Und das ist gut so. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass eine Frau heute nicht den Beruf wählen kann, den sie möchte.

 

«Familie zu haben ist heute kein so dominanter Wunsch mehr.»

 

Was gibt, respektive gab euch der Beruf?
Linus: Ich geniesse es, selbstständig zu sein und Verantwortung zu tragen. Wenn ich aus dem Haus gehe, schlafen alle noch. Auch finde ich es schön, mein eigenes Geld zu verdienen und für später beiseitezulegen.

Maria: Ich war immer mit voller Überzeugung dabei und machte meine Arbeit gern. Und ich genoss den Kontakt zu den Menschen. Ich denke, der Wunsch nach Selbstverwirklichung ist in Linus’ Generation aber grösser als in meiner. Zu heiraten und Kinder zu haben ist nicht mehr der einzige mögliche Weg durchs Leben.

Linus: Ich glaube auch, dass eine Familie kein so dominanter Wunsch mehr ist. Ich selbst stelle es mir schwierig vor. Schon Erstklässler sind heute frech. Darauf habe ich keine Lust.

 

Maria, was würdest du heute deinem 16-Jährigen selbst mit auf dem Weg geben?
Maria: Dranbleiben. Und alle interessanten Chancen packen. In der Schweiz kann man enorm viele Berufswege gehen, das ist ein Privileg! Ich freue mich, dass sich Linus schon überlegt, was ihn sonst noch interessiert. Man soll das machen, woran man Freude hat.

Linus: Herauszufinden, was man will, kann aber auch ein Problem sein, wenn die Auswahl so gross ist. Ich bin froh, dass ich sofort wusste, was ich will.

 

Linus, über deine Generation wird oft gesagt, sie würde gut darauf achten, dass ihr Leben nicht nur aus Erwerbsarbeit besteht.

Linus: Ich glaube, viel arbeiten zu wollen ist immer noch für viele eine Motivation, weil sie dann mehr Geld verdienen. Aber ich finde es gut, dass es heute viele Möglichkeiten gibt, sein Leben zu gestalten.

Maria: Mein Sohn arbeitet auch zugunsten von seiner Familie Teilzeit. Das finde ich richtig, das Leben besteht nicht nur aus Arbeit. Was ich aber in deiner Generation beobachte, Linus, ist, dass ihr alles habt. Wir hatten damals kaum Geld und mussten für vieles kämpfen, das ist bei euch nicht mehr so. Viele Eltern sagen, ihre Kinder dürften den Lehrlingslohn behalten. Sie finanzieren ihre Kinder voll, damit diese sich verwirklichen können.

Linus: Also ich muss die Hälfte meines Lehrlingslohns meiner Mutter geben. Und mindestens 100 Franken lege ich auf die Seite. Auch wurde mir nicht jeder Wunsch erfüllt. Ich hatte einen Jugendlohn, mit dem ich Essen, Coiffeur und den öV zahlen musste. Für bestimmte Dinge musste ich sparen.

Maria: Das finde ich gute Grundwerte! Damit bist du gut gerüstet. Das Beste aus einer Situation machen: Ich glaube, da ticken wir genau gleich.

 

Bericht aus dem Magazin MAGNAO März 2024